Such a Shame

Habe vor lauter Alltag gar nicht mitbekommen, dass Mark Hollis gestorben ist. Der Talk Talk-Sänger. Such a Shame ist für mich nach wie vor einer der besten Popsongs aller Zeiten, kraft- und gefühlvoll zugleich. Tanzbar und dennoch in keinster Weise schlicht. Allein das Intro, ein Meisterwerk. Dabei verraten die letzten Alben und vor allem Marks Solo Album im Grunde noch viel mehr über den Künstler Mark Hollis. Inspiriert, intuitiv, eigensinnig, nicht auf den Markt oder Absatzzahlen schielend. Beeindruckend.

Brexit, Venezuela, und die ganzen anderen Präsidentenjungs – es ist ja nicht so, dass das Weltgeschehen gerade ein Mittagsschläfchen hält. Und es ist nahezu grotesk, wie behütet, ruhig und friedlich alles hier in unserem kleinen Land im Vergleich zum großen Rest funktioniert. Ja, eine trügerische Ruhe vielleicht, mit seltsamen Schwingungen, aber wir stehen nicht morgens vor einem leeren Kühlschrank, weil die Politik versagt.

Wie Eltern zum Teil weltweit Probleme haben, für ihre Kinder zu sorgen, unbeschwert Zeit mit ihnen zu verbringen, das Leben zu genießen, und das im 21. Jahrhundert, das ist im Grunde unbegreiflich.

Ich weiß, es gibt auch unter Politikern, wie in jedem anderen Bereich menschlichen Lebens, gute und schlechte, in moralischem Sinne, aber auch, was deren Kompetenz betrifft. Doch es tummeln sich in den Parlamenten und Palästen schon erstaunlich viele, deren „Politik“ sich auf Machtpolitik beschränkt.

Aber die Menschen neigen ja auch dazu, sich immer wieder „Führern“ an den Hals zu werfen, die es schaffen, ihnen vorzugaukeln, sie nähmen sie nun an die starke Hand. Ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ist für viele offenbar gar nicht so erstrebenswert. Oder ihnen reicht ein kleiner Raum, um sich zu entfalten. Und, ja, die Freiheit, dies oder das zu tun, empfinden viele auch als Fluch.

Der „freie Wille“ – ich sitze gerade (mal wieder) an einem Papier über das Böse. Habe in den letzten Tagen versucht, den aktuellen Forschungsstand zusammenzufassen. Viel hat sich in den letzten Jahren nicht getan. Es gibt nach wie vor den Streit zwischen der Hirnforschung, also den „Deterministen“, die glauben, die Beschaffenheit eines Menschen (Gene, Hirn etc.) sei entscheidend dafür, ob jemand womöglich zum zum Täter wird, und der forensischen Psychiatrie, die immer noch die Meinung vertritt, der Mensch könne sich in der Regel bewusst für oder gegen eine böse Tat entscheiden.

Ziemlich bemerkenswert ist übrigens, dass beide Parteien unabhängig voneinander eine starke Exekutive und ein starkes Rechtssystem für die beste Abschreckung gegen Gewalttaten erachten. Dass irgendjemand sagt, wir müssen schon in Kitas und Grundschulen ansetzen und darüber hinaus verstärkt den Blick auf die Elternhäuser legen, habe ich nicht gelesen. Auch dass eine gute Städteplanung der Ghettoisierung vorbeugen und integratives Zusammenleben fördern müsse, ist mir auf die Schnelle jetzt so nicht untergekommen.

Habe heute in der Mittagspause dafür mal wieder einen schönen Kommentar in der taz gelesen. Der Autor Ilija Trojanow beklagt darin die Abstumpfung durch Leaks, also dass sich über Skandale und politische Lügen keiner mehr aufregt, weil eine Art Gewöhnungs- und Demoralisierungs-Effekt eingetreten ist. Wörtlich schreibt er: „Durch das tägliche Bombardement mit Skandalen aller Couleur wird die ethische und emotionale Wucht der Enthüllung geschwächt. Ein Exhibitionist, der immer wieder nackt herumstolziert, wird in Gegenwart einer wachsenden Zahl anderer Exhibitionisten weitaus weniger negativ auffallen als zuvor.“ Schön gesagt, mit anderen Worten: Wenn wir nicht aufpassen, leben wir bald gezwungenermaßen in einer FKK-Welt. Nur, dass das kein Urlaub wird.

Machtpolitik. Vielleicht muss ich mal wieder Machiavelli lesen. Oder Hobbes. Die Frage bleibt: Wie frei sind wir denn wirklich in unseren Entscheidungen? Bin gestern im Rahmen einer Recherche für ein anderes Projekt auf eine Familie gestoßen, die mit ihren schulpflichtigen Kindern gerade im Bus durch Amerika fährt. Monatelang. Die Kinder unterrichten die Eltern selbst. Wahnsinn. Also, toll! Es gibt mutige Menschen, die einfach machen. Kollege Stuertz und ich hatten gestern Abend die bekannte „Literatur-Lobbyistin“ (so bezeichnet sie selbst ihren Beruf) Karla Paul zu Gast. Eine Frau, die davon lebt, dass sie über Bücher spricht und schreibt. Die sich morgens mit einem Kaffee und einem Buch wieder ins Bett legt und so ihren Arbeitstag beginnt. Die aber auch clever genug ist, um zu erkennen, dass man das in Zeiten wie diesen einem anderen Menschen kaum erklären kann, wie das funktioniert. Und die sich auch darüber im Klaren ist, dass das vielleicht nicht ewig so weitergeht.

Es gibt Tyrannen und Psychopathen, die uns das Leben schwer machen. Und es gibt Menschen, die ihr Leben gestalten. So, wie sie es für richtig halten. Aber ohne andere dabei zu beschneiden, diskriminieren oder unterdrücken. Lasst uns zusehen, dass wir zu der zweiten Gruppe gehören.

Ist Norbert Noreply der Max Mustermann des digitalen Zeitalters?
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