Marokko

Wir sind zurück. Haben diese Familien-Reise gewagt, meinem Vater einen Herzenswunsch erfüllt: Casablanca. Mittagessen in Rick‘s Café, mit all dem Drumherum, dass es dieses Café in Casablanca nie wirklich gab usw. Danach Essaouira und Marrakesch.

Es war toll, es war auch ein bisschen anstrengend, weil die nächste Generation sich natürlich für die vorige verantwortlich gefühlt hat.

Phasenweise kam es mir tatsächlich vor wie eine meiner kurzen Drehreisen, auf denen man zwar viel sieht und viel erlebt, sich aber dennoch nicht in jeder Phase gehen lassen kann, weil man die Geschicke und das große Ganze im Auge behalten muss.

Es war schön, mal wieder ein paar Tage am Stück mit meiner großen Schwester zu verbringen. Es war schön zu sehen, wie erfüllt meine Mutter von den Unterkünften war, die meine Frau organisiert hatte. Und es war rührend, wie mein Vater im Landeanflug auf Casablanca den Hals reckte, aus dem Fenster schaute und versuchte, seinen Sehnsuchtsort mit einem Blick zu erfassen, um abzugleichen, ob es wohl das sein wird, was er über die Jahre als Vorstellung mehr oder weniger vage im Kopf entwickelt hatte.

Natürlich ist Nordafrika noch mal was ganz anderes. Und die Menschen dort sind tatsächlich so nett und freundlich, wie es in diversen Blogs und Reiseführern vorher beschrieben worden war. 

Und wir hatten Glück mit dem Wetter. Es war auch für marokkanische Verhältnisse vergleichsweise warm. Aber nicht zu warm. Gerade recht, um noch einmal ein bisschen Sonne zu tanken, um jetzt bei knackigen 2 Grad, kristallklarer Luft  und Sonne zum Pferd zu fahren.

Privilegiert. Hat meine Tante mal gesagt. Über das Leben, das meine Frau und ich führen. Meine Tante meinte, glaube ich, etwas anderes, deswegen habe ich das gar nicht so empfunden, als sie es sagte. Aber natürlich führen wir ein privilegiertes Leben. Das merkt man einmal mehr, wenn man in anderen Ländern unterwegs ist. Der niedrige Lebensstandard, den die meisten Menschen dort teilen. Der tägliche Kampf ums Überleben. Die Infrastruktur. Der Müll. Auf Trinkwasser aus Plastikflaschen angewiesen zu sein, die überall ihre Spuren hinterlassen. Ich kenne das natürlich von anderen Reisen, China, Südamerika, mir fällt dann auch immer auf, wie gut unser System funktioniert, beziehungsweise wie klein unsere Herausforderungen jahrzehntelang waren. Natürlich ist das fragil. Man muss es schützen. Jeder muss seinen Beitrag leisten. Und man muss bereit sein, sich zu modernisieren. Transformieren. Ohne, dass das, was gut funktioniert, plötzlich zerbricht. Nach diesen Reisen stelle ich auch immer ein wenig meinen Job in Frage. Denke, ich müsste auf dem letzten Ende noch mal etwas Sinnvolles tun. Etwas Vernünftiges. Etwas wirklich Vernünftiges. Oder aber leichter und mutiger agieren, wie die Aussteiger und Künstler, die man auf solchen Reisen immer trifft. Die sich treu geblieben sind. Immer. Auch wenn es schwerfällt und sie dafür einen Preis zahlen.

Diese Reise noch einmal mit meinen Eltern zu unternehmen, war ein großes Geschenk, weil natürlich nicht klar ist, ob das wiederholbar ist. Weil das Alter seine Spuren hinterlässt. Auf der anderen Seite muss man diese Zeit teilen, um sich nicht fremd zu werden. Ich glaube, meine größte Angst ist es, mich irgendwann den Menschen, die mir zeitlebens nah waren, gegenüber fremd zu fühlen. Weil sich Wege trennen. Lebensentwürfe nicht mehr deckungsgleich sind. Weil das Alter Menschen verändert. Und das Älterwerden. Der Reiz liegt doch darin, das Timing für sein eigenes Älterwerden mit zu bestimmen. Die verschiedenen Rollen anzunehmen. Es auch zu genießen, dass man bestimmte Dinge ruhiger angehen kann. Dass man niemandem mehr etwas beweisen muss. Das man begriffen hat, das Kostbarste, was man besitzt, nicht leichtfertig aufs Spiel setzt: seine Beziehung.

Habe unterwegs ein wunderbares Buch gelesen, das mir meine gute Freundin und Schriftsteller-Kollegin Ina Bruchlos geschenkt hat. Weil es sie, wie sie sagte, irgendwie an meinen neuen Roman erinnert hat. Oben ist es still. Und tatsächlich gibt es Parallelen. Pikanterweise geht es darin um ein problematisches Vater-Sohn-Verhältnis. Und auch wenn ich natürlich abstrahieren kann, habe ich doch gemerkt, wie diese Geschichte die Reflexion über die Beziehung zu meinem eigenen Vater angekurbelt hat. Kurioserweise hat er sich das Buch während unseres Urlaubs einmal vom Tisch genommen und sich prompt darin festgelesen. Ich rief ihm zu, es sei jetzt gerade vielleicht „nicht das richtige Buch“, aber er ließ nicht davon ab. Fand ich natürlich spannend, weil ich mich gefragt habe, was ihn daran wohl so packt. Und ob er es einfach lesen konnte, ohne es gleich an sein eigenes Leben anzulegen. Und an meines.

Auf jeden Fall ist mir mal wieder klar geworden, dass die alltäglichen Probleme, mit denen ich mich herumschlage, nicht existenzieller Natur sind. Und da geht es mir vermutlich wie vielen anderen. Habe gestern gelesen, dass die Deutschen im Durchschnitt am wenigsten arbeiten, weil sie so viel Urlaub haben und so oft krank sind.

Das hat schon etwas damit zu tun, dass man es sich leisten können muss, krank zu sein. Dass man krank sein darf.

Jetzt war ich gestern beim Pferd, und das Pferd hat so hochwertiges Kraftfutter gegessen und ich ein Brot, das der Bäcker „Champagner-Roggen“ getauft hat, und jetzt sitze ich vorm Fernseher, schaue Liverpool gegen Man City, weil wir uns einen Sportkanal leisten können, und gleich werde ich noch für die SOS-Kinderdörfer spenden, weil ich das immer mache, wenn die mir schreiben, obwohl ich weiß, dass es mich nicht viel kostet, und dann fühle ich mich mutlos und denke wieder an diesen Aufkleber auf unserem Kühlschrank: What would you do, if you weren’t afraid, und dann denke ich: ja, what would I eigentlich tun, wenn ich keine Angst hätte, aber Angst ist ja relativ und irgendwie german, und die Nacht ist ne Bitch, aber natürlich ist Zeit kostbar, fast so kostbar wie eine gute Beziehung, und es ist leicht, darüber zu schwadronieren, wie man seine Zeit besser oder sinnvoller nutzen könnte, wenn man keine existenziellen Sorgen hat.

Was natürlich nicht bedeutet, dass psychische Probleme oder Traumata nicht belastend sein können. Gestern erzählte Gustav Peter Wöhler in einem wunderbaren NDR-Kultur-Interview, dass ihn der Chorleiter in der Schule nicht singen lassen wollte, weil er aus kleinen Verhältnissen stammte (Gustav, nicht der Lehrer), und dass ihm seine Gesangslehrerin später sagte, er habe (womöglich deswegen) eine Laufbahn als Opernsänger verpasst. Das war ziemlich berührend, und ich glaube, das vielleicht doch auch einiges besser geworden ist. Vielleicht aber auch nicht.

Ohne Worte