Glück

Glücksritter
Glücksritter

Glück ist der Freund, von dem man nicht wusste, dass es ihn gab. Der stille Teilhaber im Hintergrund. Oder die schrille Alte. Die gute Frage, die einem nie einfällt. Ein versäumtes Gespräch. Glück ist unterbelichtet. Es wird einem erst im Unglück bewusst. So, wie man Gesundheit nur im Wissen um Krankheit schätzen lernt. Randnotiz: Gegen-Liebe hingegen ist das einzige Gefühl, nach dem man sich a priori namentlich sehnt.

Glück

Eines Tages wird unser Kater sterben,
und ich werde heulen.
Eines Tages wird unser Gaul sterben,
und ich werde heulen.
Eines Tages werden meine Eltern sterben,
und ich werde heulen.

Unterschiedlich lang,
unterschiedlich laut.

Vielleicht werden
mein Haus davonschwimmen
oder meine Felle
die Jungs für ihr Vaterland kämpfen müssen
oder ihr Vater für die Jungs.
Vielleicht wird
mich eine Krankheit umbringen
oder mein Job
oder meine Sorge
um meine Liebste.

Aber bis dahin
bin ich der,
der verschont geblieben ist;
der Glück gehabt hat.

Versteh das endlich,
Du dämlicher Hund.

Höltigbaum-Hits Vol. 4

so dumm sein
wie weißes Papier

(Element of Crime)

Wie??? Nicht Höltigbaum????
Wie??? Nicht Höltigbaum????

Tja, kann man in Zeiten wie diesen einen Blogeintrag verfassen, ohne über den Krieg zu schreiben? Eigentlich nicht. Oder sollte man es gerade deswegen (auch)? Wäre ich radikaler Konstruktivist, könnte ich sagen, wenn ich den Krieg ausblende, indem ich nicht über ihn schreibe, könnte er am Ende womöglich gar nicht passiert sein. Dann wäre ich aber zugleich auch ein inhumaner Zyniker, der das Leid eines ganzen Volkes (vielleicht der ganzen Welt) ausblenden bzw. sogar leugnen würde.

Ich versuche mal, eine Brücke zu schlagen. In den letzten Monaten – also, eigentlich seit Corona – fahre ich ja ab und an mit dem Rad ins Naturschutzgebiet bei uns in der Nähe. Höre Musik, trinke ein Feierabendbier, manchmal arbeite ich da auch noch, mache Notizen, telefoniere, schreibe Mails. In jedem Falle komme ich dort auf andere Gedanken. Auf bessere, um genau zu sein.

Über die Monate haben sich ein paar Songs herauskristallisiert, die ich neu- oder wiederentdeckt habe. Zu einigen fällt mir eine Geschichte ein, die ich dann mit euch teile.

Heute geht es um „Weißes Papier“ von Element of Crime.

Der Song erschien im Januar 1993 (in dem Jahr habe ich Abitur gemacht) auf der gleichnamigen Platte, die für die Band Element of Crime im Grunde auch der große Durchbruch war.
In der zweiten Strophe dieses Songs heißt es:

Auch werd‘ ich in Zukunft ein Anderer sein,
Als der, den du in mir sahst.
Die Hose die du mir gehäkelt hast
Werf‘ ich in den Container der Heilsarmee rein.

Ich ess‘ auf dem Fußboden, aus der Hand
Seh‘ mir jeden Trickfilm im Fernseh’n an.
Alles was du nicht magst, lobe ich mir.
Ich werd einfach so rein,
Und so dumm sein, wie weißes Papier.

Es geht hier um das alte Motiv des verlassenen (oder verlassenden?) Mannes, der sich nach der Beziehung in die Transformation flüchtet. Er mutiert in das Gegenteil dessen, was er meint, seiner EX gewesen zu sein und kultiviert plötzlich Handlungen, Eigenarten und Rituale, von denen er glaubt, dass diese die EX zur Weißglut gebracht hätten: keine Essmanieren, Trickfilme, Undank usw. Er meint, sie damit verletzen zu können. Oder sich über sie zu erheben. Es ihr heimzuzahlen.

Nun zu meiner Randnotiz: Im selben Jahr erscheint in Münster eine CD von dem zwar stadt-, aber ansonsten relativ unbekannten Künstler Axel Schulz (der sich später Axel Schulß nannte). Auf dieser Platte wiederum gibt es einen Song, der diesen Gedanken des ins Gegenteil mutierenden EX-Liebhabers weiterführt:

Ich liebe diesen Song von Axel Schulß. Tolle Komposition, sehr cleverer Text. Ich liebe ihn auch wegen der Band, die ihn eingespielt hat. Der Trommler ist mein alter Schlagzeuglehrer Ben Bönniger, die anderen beiden, Ekki und Wolfgang, sind jetzt feste Mitglieder der Kölner Band Erdmöbel. Jedenfalls habe ich mir anlässlich dieses Blogs nochmal genau angeschaut, wann die Songs erschienen sind. Manchmal entdeckt man dabei ja die merkwürdigsten Sachen. Ehrlich gesagt, habe ich mir insgeheim gewünscht, „Weißes Papier“ sei deutlich später erschienen; dass der große Sven Regener womöglich bei dem unbekannten und viel zu früh verstorbenen Münsteraner Künstler Axel Schulß „geklaut“ hätte, also im Prinzip so eine Gary-Moore-Still-got-the-blues-Geschichte (he got the blues). Vermutlich war es wohl eher andersherum, aber die Frage kläre ich mal, wenn ich das nächste Mal auf die Erdmöbel treffe. Außerdem, was soll´s? Es sind zwei sehr unterschiedliche Songs, auf ihre Art gleich wunderbar.

„So dumm sein, wie weißes Papier“. Ich stolpere immer über dieses Bild, das Sven Regener da gemalt hat. Weil es doch eigentlich nichts gibt, was mehr Potential hat, als ein weißes Papier. Als ein unbeschriebenes Blatt. Ein Neugeborenes ist ja nicht dumm, sondern, im Gegenteil, es hat alle Anlagen, alles zu lernen und zu wissen. Insofern ist es höchstens ungebildet oder unerfahren, aber nicht per se dumm. Ahnungslos vielleicht. Und jetzt zur Brücke; denn das wäre ich in Zeiten wie diesen nämlich auch gerne manchmal: Ahnungslos und unerfahren, wie ein weißes Papier, auf dem sich keine Zeile findet, über Kriege.
Aber wo kämen wir da hin?

Letzte Frage: Was ist der Unterschied zwischen einem unbeschriebenen Blatt und einem ungehobelten Klotz?