Mein Onkel war vom alten Schlag. Norddeutsch durch und durch. Sein Herz schlug schneller, für alles, was einen Motor hatte. Oder Räder. Oder am besten beides.
Als ich mir während des Studiums, Mitte der 90er, einen Renault Kastenwagen kaufte (für den Transport meines Schlagzeugs), war ich fortan mit den meisten Reparaturen aller meiner noch folgenden Autos (bis zuletzt, mit meinem alten Elch) in seiner Guerilla-Werkstatt – einer Doppelgarage, ohne Hebebühne und ohne Grube, dafür mit einem großen Wagenheber, dem die Last mit zunehmendem Alter immer weniger zuzutrauen war. Dasselbe galt irgendwann auch ein klitzekleines Bisschen für meinen Onkel, aber richtig schiefgegangen ist nie was. Und Kosten gespart hab ich dadurch, was gut war. Ein kaputtes Auto war für mich immer sofort eine kleine Katastrophe. Und mein Onkel sehr oft der rettende Engel.
Mein Onkel war, wie gesagt, vom alten Schlag. Dazu gehört auch, dass er relativ viel rauchte. Und „Flens“ war sein Ding. Ärzte („Quacksalber“) und Vorsorge waren hingegen nicht so sein Ding. Als es am Ende dann nicht mehr anders ging, ist er doch zum Menschen-TÜV, aber die Mängel waren leider schon zu groß, um ihn nochmal flott zu machen. Kolbenfresser. „Wenn der Motor auf ist, ist er auf“, soll er zu den Schwestern gesagt haben. Es ging so schnell, und von uns wollte er keinen mehr sehen. Als ich noch überlegte, ob es richtig oder falsch wäre, sich über seinen Wunsch hinwegzusetzen und einfach hinzufahren, ist er gestorben. Meine Mutter schickte uns allen eine Sprachnachricht, um die traurige Botschaft zu überbringen. Ich saß gerade im Auto, hatte meine Frau soeben am Flughafen abgesetzt – und im Radio lief „Hymn“ von Barclay James Harvest. Das war sehr traurig.
Meine ganze Familie ist doch eher norddeutsch. Also, zumindest das Gegenteil von südeuropäisch (oder das, was wir klischeehaft als südeuropäisch vor Augen haben). Will sagen, wir sehen uns nicht oft, als Ganzes. Leider, eigentlich, und in den ersten Jahren meiner Kindheit und Jugend war das auch anders. Die regelmäßigen, großen Treffen hörten auf, als meine Oma starb, die Mutter meines Onkels. Aber natürlich liegt es in erster Linie an mir. Die genauen Gründe dafür kenne ich wahrscheinlich nicht mal selbst.
Die einzigen Anlässe, auf denen man sich jetzt noch sieht und feststellt, wer alles noch da ist, sind Beerdigungen. Die meiner Oma habe ich verpasst, weil ich zeitgleich auf einem Dreh in New York war. Als sich meine Familie ums Grab versammelte, stand ich neben mir, auf dem Broadway. Damals habe ich mir geschworen, dass mir das nie wieder passiert. Aber ausgerechnet bei dem Onkel, mit dem mich am meisten verband, passiert es wohl wieder. Wenn die Beerdigung stattfindet, werde ich gerade in Mexico City gelandet sein, am Anfang einer langen, wichtigen Drehreise. Aber was ist schon wichtig?
Leider sehe ich aktuell keine Möglichkeit, das noch irgendwie zu ändern. Das macht mich auch traurig. In der vertrauten Gemeinschaft Abschied zu nehmen, ist wichtig. War es immer schon. Es schützt uns vor Traumata. Der Konstruktivist in mir versucht mir natürlich einzureden, dass mein Onkel so lange lebt, wie ihn mein Kopf denken kann, aber ich ahne, dass das nicht so ganz stimmt …
Mein Onkel hat mir einiges bei- und nähergebracht: Werner, zum Beispiel, den kleinen „Krad-Anarchisten“ aus Flensburg. Mein Onkel war der Erste, der die Comics zuhause hatte und sie mir, der noch ein Kind war, nach den Ferien auslieh. Obwohl ich nicht alle Witze verstand, hab ich die Dinger auswendig gelernt, wurde in der Schule dafür auch ziemlich geschätzt (zumindest von den Jungs), und ich konnte Werner auch selber ganz passabel zeichnen. Kein weißes Blatt war vor mir sicher.

Ein unbeschriebenes Blatt war mein Onkel sicher nicht. Eher so eine Mischung aus Hermann Löns, MERIAN, Lederstrumpf, Tageskarte und einem alten D&W-Katalog aus den 80ern. Er war bekannt. Die Verkäufer bei Matthies nannten ihn beim Vornamen, wahrscheinlich hatte er eine einstellige Kundennummer. In seinem Lieblingsimbiss, in dem er jahrelang zu Mittag aß, besaß er einen Stammplatz, da lag auch seine Lesebrille. Neben den Zeitungen. Die Brille lag da, weil er sie da immer liegenließ. Er kam ja wieder.
Als er das „Richtfest“ seiner Doppel-Garagen-Werkstatt feierte, war ich das erste Mal richtig betrunken – in Anwesenheit meines Vaters, der auch richtig betrunken war. Man kann sagen, diese Party war mein Initiationsritus. Ohne krasse Drogen, oder dass Blut floss, einfach nur Bier.
Werners Bier, „Flensburger“, war auch das Bier meines Onkels. „Erfrischend anders“, so lautete mal ein Werbe-Slogan des Unternehmens. Der Slogan prangte als großer Aufkleber auf der Kühlerhaube seines Opels (ein Kadett C Coupé), eine Anspielung auf unseren Nachnamen. Was ein bisschen lustig war. Und so werde ich ihn auch in Erinnerung behalten: Oft „erfrischend“, aber immer „anders“.
Mein Onkel. Mit ihm geht ein Original, mit allen Ecken und Kanten. Ein Original, das eben auch so oder so ähnlich nicht zu ersetzen ist. Vielleicht ist das niemand, aber er erst recht nicht. Und das werden alle so sehen, die ihn kannten.