Lieber Zuhörer

Muss mich seit letzter Woche mit dem Thema „Amok“ auseinandersetzen. Hab auch ein kleines Dossier zur Lektüre bekommen und fand das tatsächlich sehr interessant. Vielleicht habe ich zum Thema Amok allerdings jetzt auch einen anderen Zugang, weil meine Söhne nun selbst in dem Alter sind, in dem Jugendliche oder junge Männer typischerweise zu Tätern werden.

Die Kernfrage der Forschung lautet: Gibt es frühe Warnsignale, die Eltern, Lehrer oder Freunde im Umgang mit potentiellen Tätern erkennen können? Kurz gesagt: Kann man einen Amoklauf verhindern?

Gerade die Rolle und die Verantwortung der Eltern wird in diesem Zusammenhang kritisch beleuchtet. Und auch ich frage mich als Vater: Wie meistert man die Gratwanderung zwischen „langer Leine“ und „Supervision“?

Sue Klebold, die Mutter von Dylan Klebold, einem der beiden Täter des Columbine High School-Attentats, sagte in einem Interview mit der Süddeutschen Jahre später ein paar Worte, die ich mir ziemlich zu Herzen genommen habe: „Ich wusste früher nicht, wie man zuhört. Ich dachte, ich würde zuhören, aber in Wahrheit tat ich es nicht. Ich kann mich daran erinnern, dass ich als Kind meiner Mutter vorweinte, wie hässlich ich sei und dass mich niemand möge. Worauf sie sagte: `Aber ich mag dich doch.´ Es war sicher nett von ihr gemeint, aber auch das ist nicht zuhören.“

Der Kölner Psychotherapeut Stephan Potting erzählt (ebenfalls in einem SZ-Interview), Eltern von Tätern hätten häufig die Beziehung zu ihren Kindern vermieden und darüber den Kontakt zu ihnen verloren. Er rate Eltern daher, „den Kontakt zu ritualisieren“, z. B. durch gemeinsames Abendessen, gemeinsame Gespräche und Begrenzung des Medienkonsums. Den daraus entstehenden Ärger mit dem pubertierenden Nachwuchs empfindet er als „sinnvoll“. Hochinteressant. Lieber ab und an in die Konfrontation gehen als gar nicht miteinander reden.

Die Rolle der Medien ist natürlich auch interessant. Wie muss man ein solches Geschehen medial aufbereiten? Es gibt mittlerweile einen Verhaltenskodex, wie man in Deutschland über Amokläufe berichten soll: den Täter pixeln, möglichst wenig Details – damit der Täter nicht zum „Helden“ bzw. zur Identifikationsfigur wird und noch mehr Nachahmer findet.

Wann ist ein Bild ...
Wann ist ein Bild …
... ein Bild von sich?
… ein Bild von sich?

Ich habe einem Protagonisten in meinem zweiten Roman „Kunststoff“ damals einen Satz in die Feder diktiert: „Amok ist umgedrehtes Koma.“ Ich dachte damals, das wäre superoriginell, bis mir ein Kollege erzählte, so ähnlich hätte die Punkband „Abwärts“ schon in den Achtzigern eine Platte betitelt. Jetzt habe ich gelesen, dass das in Winnenden das Passwort für den schlimmstmöglichen Fall war. Als die Katastrophe ihren Lauf nahm, rief der Rektor: „Frau Koma kommt!“

Ich habe mir auf jeden Fall vorgenommen, wieder besser zuzuhören. Generell. Weil es das soziale Miteinander fördert. Und sich der Andere besser fühlt. Ganz einfach.

Hilfsgärtner

Alphabeten

Die Alphabeten haben gestern erste Probeaufnahmen für ihren demnächst erscheinenden Podcast gemacht. Das war schon sehr lustig. Zumindest für uns.

Die Zeiten sind ja ein bisschen verrückt. Und es kommt ja auch nicht von ungefähr, dass wir jetzt so ein Projekt starten. Weil die Zeit reif ist, vielleicht sogar „überreif“, und die Entwicklung des alten Wunsches der Kritischen Theorie, der Empfänger möge (als Gegenpol zu den klassischen Massenmedien) doch auch zum Sender werden, auf dem anderen Ende der User-Skala die seltsamsten Blüten treibt:

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Wahnsinn: Sammel-Alben für Webstars! Meine Freundin hat mir das geschickt, Danke dafür, man glaubt das ja nicht, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Aber im Grunde auch symptomatisch und auf der zweiten Beobachtungsebene wiederum ein tolles Thema für eine Abschlussarbeit in Kulturwissenschaften. Oder Psychologie.

Apropos Kritische Theorie. Hatte kurz das Gefühl, mein persönlicher Kommentar zu Alexander Kluges 85. Geburtstag (https://www.anders-blog.de/?p=5149) sei womöglich etwas zu pathetisch und bewundernd geraten, aber der Kollege Markus Ehrenberg vom Tagesspiegel hat es ganz ähnlich formuliert (http://www.tagesspiegel.de/medien/alexander-kluge-wird-85-jahre-alt-stachel-im-fernsehfleisch/19385836.html). Der NDR hat ebenfalls ein kleines, schönes Geburtstagsstück gemacht (https://www.ndr.de/Alexander-Kluge-ueber-Zeiterfahrung-als-Lebensgefuehl,journal728.html). Darin sagt Kluge übrigens, seine „Meister und Vorbilder“ seien Adorno und Benjamin – und er bloß deren „Hilfsgärtner im Garten der Kritischen Theorie“. Insofern kann ich wohl auch dazu stehen, dass es da draußen einen Mann gibt, den ich sehr schätze. Alles im Rahmen des Vernünftigen. Wenigstens das.

Und noch was: Kluges Rezept für die Zukunft? „Weiterarbeiten!“

The Weak End is over

Kanne

Scheine die kleine Grippe-Attacke vorletzte Woche gut überstanden zu haben. Will nicht sagen, dass ich Bäume ausreißen könnte, aber zumindest habe ich dieses Wochenende endlich wieder mal ein Pensum absolviert, das Geist und Körper gefordert hat. Samstag und Sonntag Stalldienst in der norddeutschen Kälte, heute Nachmittag ein Vorbereitungsspiel gegen Teutonia gewonnen (2 Assists), nebenbei ein bisschen Falkner und Walser gelesen – und gestern Abend um Viertel nach acht das Mainstream-Programm umschifft und stattdessen „Die Füchsin“ im WDR geschaut. Hat mir sehr gut gefallen. Das Lustige war: Ich kannte eine der Locations, weil ich da selbst mal gedreht habe, und zwar mit Joe Bausch, damals für unsere Reportage.

So gesehen im Dritten
So gesehen im Dritten

Das Haus befindet sich in Köln, was bemerkenswert ist, weil die „Füchsin“ eigentlich in Düsseldorf spielt, egal, nur eine Randnotiz, doch ich muss zugeben, dass mir dieses „Geheimwissen“ ein bisschen Freude bereitet.

So bei mir.
So bei mir.

Tatort-Drehort damals

Die Reportage läuft übrigens immer noch im Netz bei spiegel.tv. Ist definitiv einer meiner schöneren Filme. Morgen geht es nach Zürich, zum SRF. Wir stellen da unsere Protagonisten vor, die wir für eine kleine Dokureihe gecastet haben: „Schweizer in Hamburg“. Sind, glaube ich, ganz gut gewappnet. Dienstag wird es dann ernster. Da werden mein Alphabeten-Kollege Sebastian und ich mal versuchen, eine Probeaufnahme für einen (demnächst hoffentlich regelmäßig erscheinenden) Podcast zu produzieren … bin ein bisschen nervös.

Man wird am Ende nicht sagen können, dass ich keine Spuren hinterlassen habe.
Man wird am Ende nicht sagen können, dass ich keine Spuren hinterlassen habe.

Merke in diesen Tagen, dass es den Akku auflädt, wenn man den Geist auch „mitlaufen“ lässt. Das ist wie bei einem Hybrid-Auto, das Energie produziert, während es faktisch Fahrleistung erbringt (oder war es Bremsleistung?). Habe in meinem kleinen Walser-Büchlein gestern noch vier Zeilen gefunden, die ich hier unbedingt teilen möchte. Obwohl ich es zweimal lesen musste, um die ganze Tragweite zu verstehen – dennoch voll auf den Punkt!

stimmbildungwalser

 

Betrachtungs-Weise

3sat
Gestern in Mainz gewesen. Habe dort mit einem geschätzten Kollegen ein paar Ideen bei 3SAT vorgestellt. Zurück mit dem IC entlang des Rheins wieder nach Hamburg, an die gute, alte Elbe. Man denkt auf diesem ersten Abschnitt am Wasser, man reise in eine(r) andere(n) Zeit, weil man die ganze „Zeit“ auf Burgen und Fachwerkhäuser blickt.

rheinfall
Lesestoff an Bord: „Ferngespräche“, von Alexander Kluge und Rainer Stollmann. Hab es während meines Kurztripps im Januar erstanden, eher zufällig (oder eben gerade nicht?), im Heinrich-Heine-Haus in Düsseldorf, einer Buchhandlung, die im Internet zudem noch als Büchercafé ausgezeichnet war, was sich wiederum als falsch erwies. Und auf der vergeblichen Suche nach einer Toilette und einem Heißgetränk, habe ich stattdessen dieses Buch erworben.

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Wie alles von Kluge ein Wissensschatz. Betone das deshalb, weil dieser Mann, der mich mit dem, was er tut und sagt, seit meinem Studium beschäftigt (also seit über 20 Jahren), nächste Woche 85 Jahre alt wird. Wir hatten ein Mal konkret miteinander zu tun, im Rahmen einer DVD-Produktion über das Böse. Meine Freundin und ich hatten eine Spiegel TV-Doku zu diesem dunklen Thema produziert und Kluge mehrere andere, kürzere Filme, die er zurecht gerne veröffentlicht sehen wollte.

Man kann Alexander Kluge nur für das bewundern, was er aus seinem Leben gemacht hat. Und das meine ich so, wie ich es sage; wie er es geschafft hat, sich in der kommerziellen, von Quoten und Werbeeinnahmen bestimmten Fernsehlandschaft einen „Markt-Platz“ zu sichern, mit Waren, die auf diesem Markt üblicherweise nicht nachgefragt werden, sondern, im Gegenteil, über die sich alle wundern. Oder sogar ärgern. Einmalig. Diese nicht standardisierten Genüsse dennoch stets im Gepäck, und die Strukturen des „Marktes“ in der Art ausgetrickst zu haben, dass man jeden Samstag aufs Neue seinen Stand aufbauen und weitere Waren produzieren darf, gleicht beinahe schon einem Eulenspiegel-Streich. In jedem Falle ein Glücksfall für diejenigen, die nicht nur Gemüse aus holländischen Treibhäusern fressen wollen.

Alexander Kluge – so scheint es jedenfalls, von außen betrachtet – befindet sich in der einmaligen Situation, laufend neue Projekte anzugehen, die ihn geistig (und körperlich) fordern und gewissermaßen auf seiner eigenen, geistigen Karriereleiter immer einen Schritt höher befördern. Während ich das Gefühl habe, seit meinem Studienabschluss täglich Wissen zu verlieren, scheint Kluges Wissensschatz wie der Inhalt von Dagobert Ducks Geldspeicher ständig und unaufhaltsam anzuwachsen. Sein Leben und sein Schaffen kommen daher wie eine einzige autogene Weiterbildungsmaßnahme. Und auch wenn er sich im Laufe der Zeit ein konstantes Vokabular angeeignet hat, bringen sich die Verbindungen und Anwendungen in seinen verschiedenen Ausdrucksformen ständig aufs Neue gegenseitig in Bewegung.

Wie in „Ferngespräche“. Ich habe das Buch aus Neugier gekauft. Weil an meiner Pinnwand ein Zettel hängt, auf dem steht: „Kluges Gespräch“! Es ist der Titel eines Interviewbuches mit Kluge, das ich gerne noch machen würde. Wobei ich nicht darauf versessen bin. Das Leben hat oftmals seine eigene Dramaturgie. Man kann im Laufe des Lebens Impulse setzen, aber alles andere ist ergebnisoffen. Konstellativ, würde Kluge sagen. Vielleicht. Was weiß ich schon?

Geh, nesen

Bin nach meinem langen Urlaub erstmal krank geworden: Erkältung. Bisschen blöd, aber nicht zu ändern. Bin dann halbe Tage ins Büro, um mit den neuen Projekten nicht gleich ins Hintertreffen zu geraten. Fürs Bloggen fehlte mir da ein bisschen die Kraft. Außerdem hatte ich auch das Gefühl, dass man sich – wenn überhaupt – auf jeden Fall zu Trump äußern müsste, und dafür fehlte mir erst recht die Kraft.

In meinem „kleinen Walser“, in den ich zwischendurch gerne mal spicke, habe ich zwei Sprüchlein gefunden, die zwar schon 40 Jahre alt, aber immer noch hochaktuell sind:

Quelle: Martin Walser: "Der Grund zur Freude. 99 Sprüche zur Erbauung des Bewußtseins." (Rowohlt)
Quelle: Martin Walser: „Der Grund zur Freude. 99 Sprüche zur Erbauung des Bewußtseins.“ (Rowohlt)

Bin auch auf dem letzten Ende von „Geister“ angekommen, dem Roman, den mir mein Alphabeten-Kumpel Sebastian zum Geburtstag geschenkt hat. Tolles Buch – das im Übrigen sehr schön aufzeigt, wie durch die mediale Berichterstattung der Studentenrevolte in Chicago 1968 das „normale“ Volk am Ende so vergiftet war, dass es Nixon zum Präsidenten wählte. Da steht ein wunderschöner Satz, den ich hiermit teile:

„Manchmal glaubt ein Land, es hat verdient, dass man ihm den Hintern versohlt, manchmal will es umarmt werden. Wenn es umarmt werden will, wählt es demokratisch. Ich setze im Moment darauf, dass die Leute bestraft werden wollen.“ (Nathan Hill, „Geister“, S. 687)

Großer Satz – dem ich nach wiederholtem Lesen entgegen setzen würde: Ich bin der festen Überzeugung, dass die Menschen, die Trump gewählt haben, endlich mal wieder in den Arm genommen werden wollten. Und das Wahlergebnis auch (zunächst) als Belohnung empfunden haben. Oder frei nach den Ärzten: Die verbreitete antidemokratische Aggression ist tatsächlich in allerletzter Instanz ein „Schrei nach Liebe“.

Wie sich die Zeiten ähneln, heute und vor 50 Jahren. Damals waren es die Studenten, heute die Flüchtlinge. Dabei zittern die „besorgten Bürger“ vor allem um die demokratischen Errungenschaften und gesellschaftlichen Freiheiten, die uns – zu großen Teilen – erst die Studentenbewegung gebracht hat. Passt hier der Ausdruck: Ironie der Geschichte?

Meine Freundin meinte, es sei – bei aller Gefahr und Trauer – womöglich gar nicht schlecht, dass sich unsere Kinder wieder politisch werden engagieren müssen. Ich meine, was waren unsere Themen? Bio-Lebensmittel? Öko-Baumwolle? Datenschutz? Ja, auch wichtig, aber nicht existentiell.

Wobei, vielleicht werden auch diese Fragen in Zukunft extremer. Hab heute im Radio gehört, es gebe in Norddeutschland Engpässe bei Freiland-Eiern (wegen der Vogelgrippe) und bei Gemüse (aus Spanien, wegen der Unwetter dort). Ich spare jedenfalls auf eine Ackerparzelle, die meine Söhne noch bebauen können.

Mein Großer ist jetzt 16 geworden. Habe ihm ein paar Actionfilme geschenkt, die mich geprägt haben, z. B. „Leon, der Profi“. Vorgestern nachts noch mal angeschaut. Den Director´s Cut, versteht sich. Was für eine Meisterleistung von Natalie Portman. Beinahe gespenstisch. Bin gespannt, wie meinem Sohn der Streifen gefällt.