Nun also wieder für das Schweizer Fernsehen in Moskau. Zum vierten und womöglich vorletzten Mal.
Nach Saukälte und Starkregen am Tag meiner Ankunft – und der daraus resultierenden Sorge, in meinen kurzen, nassen Beinkleidern sofort krank zu werden – schaut die Sonne jetzt noch mal vorbei. Wäre sonst auch ein reichlich kurzer Sommer gewesen. Mittlerweile ergeben sich schon ein paar bekannte Bilder, z.B. diese wahnsinnig langen Rolltreppen in der Metro, diese Eindrücke brennen sich ein. Tolle Erfahrung. Russland und Moskau sind mir ans Herz gewachsen.
In der Stadt ist vor ein paar Tagen ein bekannter Theaterregisseur verhaftet worden, etwas beunruhigend für ein Land, in dem Kultur eine so große Tradition hat. Seltsamerweise spiegelt sich das hier in der Bevölkerung kaum wider. Mein Kameramann hat versucht, mir das zu erklären. Politik ist abstrakt. Die Leute scheinen einfach nur froh zu sein, dass der Laden irgendwie läuft. Redefreiheit ist etwas, das einem nur fehlt, oder, besser gesagt, das man nur genießen kann, wenn der erste Hunger gestillt ist. Vielleicht haben die meisten Menschen auch gar nichts zu sagen. Also nicht nur hier, sondern überall.
Lese gerade in einem Buch, das ich mir damals im Studium gekauft habe: Einführung in die politische Philosophie, von Christian Ruby. Fand es damals schon ein bisschen schwierig zu lesen, daran hat sich nicht viel geändert. Man muss wirklich bei jedem Wort hellwach sein. Trotzdem – oder gerade deshalb – sehr inspirierend.
Zwei Beispiele, ich zitiere:
Seite 11 – Das Wort „Idiot“ kommt von idiotes, das ist der einsame, ungesellige Bürger, der sich in die Angelegenheiten der Polis, also der politischen, sozialen Gemeinschaft, nicht einmischt, das isolierte, bedeutungslose Individuum, das unfähig ist, den anderen etwas anzubieten und Spuren zu hinterlassen.
Deswegen reicht es manchmal schon, im richtigen Moment das Bein zu heben!
Seite 23 – Die Demokratie (von demos, Gesamtheit der freien Bürger) kann manchmal zur Ochlokratie ausarten, dem „Regime der Verängstigten“ oder der Timokratie (von time, Wert, Preis, Ehre), das ist die „brutale Rivalität der Glücksritter und Profiteure“, die Unterwerfung derBürger unter den Ehrgeiz.
Da frage ich mich doch gleich, in welchem Ausmaß unsere Demokratie bereits ausgeartet ist!?
Politische Theorie ist gerade mein Thema. Meine bessere (Gehirn-)Hälfte hat mir ein tolles Interview mit Sahra Wagenknecht weitergeleitet, das so bei Meedia zu lesen war, gut geführt von Christopher Lesko. Darin erzählt Sahra Wagenknecht, wie sie sich als junger Mensch mit politischer Theorie beschäftigt hat, vor allem auch aus ihrer „sozialen Vereinsamung“ in der DDR, einem System, das sie so nicht mochte, von dem sie aber auch nicht wollte, dass es endgültig verloren geht. Sie beschreibt da auch nachvollziehbar, wie die „Wende“ am Ende keine ideelle mehr war, dass sich die Menschen nicht mehr (nur) nach Freiheit, sondern vor allem nach der D-Mark sehnten und den Produkten, die man damit kaufen konnte. Die Kapitalismus-Kritik, die sieht grundsätzlich äußert, kann ich so unterschreiben. Lohnt sich wirklich, das Interview mal zu lesen.
Das Interessante ist, dass ich hier in Russland gerade mit sehr netten Protagonisten gedreht habe, wie sie abends noch bei IKEA einen Kinderstuhl kaufen, in einem IKEA, der aussieht, wie alle anderen IKEA-Filialen auf der Welt. Uniformes Mainstream-Design, das den Menschen dennoch Individualität vorgaukelt. Ich meine, ich bin ja nicht besser, hab da letzte Woche noch einen Bilderrahmen für fünf Euro erstanden. Keine Ahnung, ein einzelnes Unternehmen raubt einem Volk ja auch nicht seine kulturelle Identität.
Auf der anderen Seite sagen alle, die hier leben, dass die jungen Russen gerade wieder der Politik auf den Leim gehen, beziehungsweise der Propaganda, wonach Russland wieder unterwegs zu alter Größe sei, was sich leider aber eben auch in einem neuen Nationalismus bei den jungen Leuten äußert. Man weiß also gar nicht, was man lieber möchte: westlichen, vom Kapitalismus gesteuerten Einfluss, der einem neuen, übersteigerten, russischen Nationalismus entgegenwirkt, oder eine eigenständige, russische Wirtschaft, auf die Gefahr hin, dass die „russische Seele“ bald den Boden unter den Füßen verliert.
Zugegeben, ich muss keinen Hunger leiden, doch am Ende sage ich das, was ich den Regierenden immer sage: Bildet euer Volk gut und großflächig und gerecht aus, gebt allen die gleichen Chancen, verzichtet auf eine unsoziale, profitgierige Wirtschaftspolitik, und der erste Schritt auf dem langen Weg zu einer friedlichen Welt ist getan. Womöglich ist auch der Weg das Ziel. Aber man sollte jedenfalls nicht in die entgegengesetzte Richtung rennen.