Die Welle bricht

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Besuchen Sie Europa, solange es noch steht. Heute: Sieseby

 

Besuchen Sie Europa, solange es noch steht.
Geier Sturzflug

Sind ein paar Tage raus, in so ein modernes Ferienresort, mit ganz vielen neuen Häuschen am Wasser, denen ganz viele Einheimische aus ganz vielen Gründen mit ganz viel Unbehagen begegnen. Aber wenn man erst mal drin ist, sieht die Welt, von außen betrachtet, schon ganz anders aus: Wasser, wohin man blickt, schlicht, aber schick eingerichtet, mit Kamin, Sprudelwanne und Infrarot-Sauna. Und dann denkt man, … hm … die Ostsee … ob er hier vor der Schleimündung auch bald U-Boote parkt? Nur als Manöver, versteht sich. Und auf dem Weg kurz Lettland einkassiert?

Habe Urlaub genommen, um meinen Eltern im Garten zu helfen. Regensicherer Unterstand für das neue Holz bauen, Holz hacken. Hab dann ein paar Nächte drangehängt und meine Frau eingepackt. Oder andersherum.

Zwei Tage lang habe ich mit meinem Vater den Akkuschrauber, den Brennholz-Spalter und die Sägen zum Schwitzen gebracht, hervorragende Ablenkung. Aber abends muss man sich hüten. Man darf die Nacht nicht zu sich nach Hause einladen. Dann liegt man in der Wanne und macht sich Gedanken über die Unterlagen für den Steuerberater, den verschobenen Zahnarzttermin und – immerzu – die Arbeit. Aber nur, weil man Angst hat, die wirklich wichtigen Dinge an sich heran zu lassen. Und dann denkt man eben doch, alles egal, weil da wieder einer der wenigen Männer, die es können, machen, was sie wollen, weil sie es können. Oder weil sie offenbar nicht anders können. Weil – das schreibe ich gewissermaßen als Chronist – dieser Krieg in Europa alle fassungslos macht, die Welt verändert und wie eine Wolke über allem schwebt, und man alle Kraft aufbringen muss (vor allem unbewusst), die richtige Balance zu finden zwischen Information und Verdrängung.

Im Grunde war Corona schon ein guter Anlass, nochmal alle Schalter auf Null zu stellen. Gemeinsam mit seinem Lebensmenschen zu überlegen, was man mit dem Leben anfangen möchte. Jetzt noch der Krieg obendrauf, der uns natürlich gefühlt näher geht als die meisten anderen Krisenherde, weil wir die Suppe, die der russische Präsident da köchelt, am Ende der Fresskette mit auslöffeln werden. Selbst, wenn nichts mehr da ist. Wobei wir noch alle Gliedmaßen haben und leben werden. Deswegen ist das natürlich ein Luxusproblem, hier und jetzt überhaupt über verschiedene Szenarien und Handlungsalternativen zu verfügen, die nicht aus Angst, Verzweiflung oder Flucht resultieren. Ich weiß das sehr wohl.

beckergrab

Waren heute in Sieseby, am Grab von Jurek Becker, der die letzten sieben Jahre seines Lebens hier oben an der Schlei verbracht hat. Wir standen vor seinem Haus, also, es ist wohl nicht sein Haus, und es sieht vermutlich auch nicht mehr so aus wie damals, scheint komplett sarniert. Es steht eine Tafel davor, und man kann die Nachbarn fragen, wenn man es besuchen möchte. Nicht richtig schön, aber mit Blick aufs Wasser. Und man ahnt, dass er hier schöne letzte Jahre hatte, bis sein Herz nicht mehr wollte. Jurek Becker, übrigens auch ein Schriftsteller, der viel fürs Fernsehen gemacht hat. So wie ich. Allerdings hatte Becker zuvor einen Riesenhit bei Suhrkamp gelandet. Später hat er Drehbücher für die Anwaltserie „Liebling Kreuzberg“ geschrieben. Und Postkarten, das war eine Spezialität von ihm. Suhrkamp hat sogar ein Buch daraus gemacht: Postkarten vom Becker


Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch mein Apfelbäumchen pflanzen.
Wohl (nicht) von Luther, aber Mut machend.

Es ist schwer, einen klaren Kopf zu bewahren. Weil jeder unpolitische Gedanke gerade irrelevant erscheint. Aber weil es auch existentiell sein kann, sich angesichts der politischen Lage, die einen eigentlich zum Handeln zwingt, auf andere Gedanken zu bringen.

Die Welle bricht

Die Welle bricht
und erschleicht sich ein Geständnis
irgendwo über mir
vertraut jemand seinem
Gegenüber
macht jemand das Licht
aus
sich heraus
ein bisschen heller
wie ein blindes Glas, in das man
einfach Wasser
hineinlaufen lassen kann

und die Zeit
wiederholt sich
in ihrem Vergehen zu vergehen

Die Welle bricht
sie hat etwas Schlechtes
zu sich genommen