Automa-Tisch-Poesie

Heute in der Mittagspause mit Begeisterung in Enzensbergers „Einladung zu einem Poesie-Automaten“ gelesen, das ich mir gestern gekauft habe. Ein Satz darin lautet: Jede Erfindung beruht auf einer früheren. Ich habe (drei Jahre später) in meinem Debutroman Jugendstil mal geschrieben: Jedes Buch hat sein Voriges.

Enzensberger entwirft mit spielerischer Ernsthaftigkeit die Bausteine und deren Bauplan zu einem Poesie-Automaten, z.B. um ihn im Wartebereich eines Flughafens zu installieren.

Schon anhand einer kleinen Matrix entwickelt die Idee ihren Reiz.

poesie-matrix

So könnte ein Poesie-Automat daraus folgende Kombinationen bilden: Inzwischen sterbe ich immer. Oder: Allerdings sterbe ich aber. Kühl und sachlich legt Enzensberger dar, inwiefern die Maschine auch Sätze liefert, die womöglich als nicht ganz „einwandfrei“ befunden werden könnten. Er spricht von „semantischen Grauzonen“, in denen Sätze „irritierend (wirken), ohne daß sich angeben ließe, warum sie eigentlich `falsch´ sind“. Dabei selbst kritisch, aber offen für alles und natürlich in dem Wissen um Dada und konkrete Poesie etc. Kurzum: Eine Freude zu lesen, verfasst Mitte der 70er, publiziert im Jahre 2000 (als tatsächlich jemand diesen Automaten gebaut hat, was dafür spricht, gelegentlich bei guten Ideen einen langen Atem zu beweisen).

poesie-preis

Auf dem Rücken noch eine Auszeichnung aus dieser anderen Zeit, an der Schwelle zur neuen. Man möchte nostalgisch werden, D-Mark, aber bald Euro, Jahrtausendwende undsoweiter, aber – Stopp: 9/11.
Wir erinnern uns.
Die guten alten Zeiten.
Eigentlich sterben sie schon.

Und noch ein Satz, den man sich auf der Zunge zergehen lassen sollte: Wer nicht besser dichten kann als die Maschine, der täte besser daran, es bleiben zu lassen.

art und weise

elemente

 

Heute Bücherbasar bei uns in der Firma. Die Einnahmen werden gespendet. Hab „Einladung zu einem Poesie-Automaten“ von Enzensberger erworben und die „Erschütterung der Welt“, ein u.a. von Douglas Coupland herausgegebenes, kleines Büchlein mit Denkanstößen zur modernen Welt. Vielleicht war das immer schon so, dass ein Haufen Bücher die große Krise verkündet haben. Aber ich hatte noch nie so wie jetzt das Gefühl, diese Bücher haben tatsächlich eine Berechtigung. Kein Tag, an dem nicht irgendeine Besorgnis erregende Scheiße passiert. Jetzt also ein abgeschossener russischer Kampfjet. Kotz.

Zeitung lesen macht es nicht besser, aber man muss ja. Themen in der taz heute:

Die Armutsverteilung. Bericht von einer Berliner Tafel, wo sich ein Rentner darüber beschwert, dass die Flüchtlinge – im Gegensatz zu ihm – nicht auf die Essensausgabe warten müssen, sondern direkt drankommen. Dachte beim Lesen an unseren Dreh in Duisburg, wo ein türkischer Kumpel fragte: Warum ist für die Flüchtlinge jetzt plötzlich Geld da, um Wohnungen zu sanieren? Berechtigt oder nicht? Keine Ahnung. Subjektive Wahrnehmung ist immer heikel. Doch um eine vernünftige Willkommens- und Integrationskultur zu herzustellen, muss die Politik vor allem eines erreichen; dass keine Neiddebatte entsteht. Denn gegen „Neid“ gibt es kein Impfprogramm.

Ansonsten lesenswert? Georg Seeßlens „Trialektik“-Theorie von den Bösen, Dummen und Gemeinen. Und dass wir, die wir uns nicht dazu zählen, nicht glauben sollen, dass wir das große, ganze Problem lösen, wenn wir uns nur mit einer der drei Gruppen auseinandersetzen.

Und? Noch ein toller Grundgedanke, den Autor Christof Forderer dem Philosophen Alain Badiou zuordnet: Nichts, was von den Menschen gemacht ist, ist unverstehbar.

Die nerven

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Am Wochenende hat der Winter vorbeigeschaut. Das war eine schöne Abwechslung. Und ein schönes Gefühl zu wissen, dass er uns immer noch besucht.

Angst ist diese Woche das große Thema. Nicht nur im Spiegel. Auch in Brüssel. Angst und die Frage, ob wir sie zulassen. Ich bin eigentlich kein ängstlicher Typ, aber wir werden uns dieses Jahr auf die kleinen Weihnachtsmärkte in der norddeutschen Provinz verlegen.

Musste in den letzten Tagen noch ein paar Mal über diese mögliche Verbindung des Pariser Terroranschlags und dem Computerspiel „Battlefield 3“ nachdenken (s. anders-blog vom 17.11.). Ich spiele ja genau ein Spiel: Score. Da stelle ich mich manchmal in der Mittagspause der Daily Goal Challenge. Wenn man sich die Werbetrailer anschaut, kann man zusätzlich Coins sammeln, mit denen man wiederum neue Ligen freischalten kann. Clever gemacht. Jetzt ist mir aufgefallen, dass diese Clips, die da geschaltet werden, häufig für Kriegsspiele sind.

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Wer kann in unserer Zeit ernsthaft so werben?

Und, ja, vielleicht bin ich da sensibel geworden, aber vor allem diese Panzerspiele finde ich richtig scheiße. Und die Clips dafür erst recht. Die nerven. Gibt auch zwei Spiele, die eine Zeit lang im Fernsehen betrailert wurden. Die Protagonisten, die das in den Spots spielen (also offenbar die „Zielgruppe“), sind häufig so spießige Anzugtypen, die am Laptop sitzen und sich plötzlich kindisch freuen, dass sie Gewalt über einen Panzer haben. Und diese Verherrlichung oder Verharmlosung der Allmachtsphantasien der frustrierten neuen Junge-Väter-Sesselfurzer-Generation, die offenbar mit dem Leben nicht klar kommt und dann Erfüllung im Panzerkrieg findet … einfach richtig schlimm …

Ansonsten? Die Nerven: „Angst“ – guter Song.

Achtung, Satire!

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Hatte da ein Unternehmer eine dunkle Vorahnung?

Ja, ich weiß, das ist ein ganz normaler Bauzaun-Verleih, aber der Name klingt schon skurril, angesichts der aktuellen politischen Lage. Und in der Tat gibt es ja – losgelöst davon – wieder viele Nutznießer, die an der Not anderer Menschen verdienen …

Bin ein Zaunkönig
ein Stacheldrahtzieher
mache
in Stockbetten
und
Millionen
in Containern
und
ein Vermögen mit
Rattenlöchern
und
dem Elend
anderer

Kant ine

Kantine – ist das ein weiblicher Philosoph? Auf jeden Fall sind die kleinen Hinweise auf Zusatzstoffe in unserem Essen mitunter wahre Kunstwerke:

weichtiere

Apropos Weichtiere:

opel-idiot

Dieses Auto parkte gestern in unserer Nachbarschaft. Besuch aus Ostdeutschland. Nicht falsch verstehen, ich denke normalerweise überhaupt nicht in diesen verhängnisvollen Ost-West-Kategorien, im Gegenteil, in diesem Falle aber ein Gedanke dazu: Es gibt ja die Theorie, dass der Fremdenhass in Ostdeutschland (noch) stärker oder weiter verbreitet sei, weil in der DDR jahrzehntelang vergleichsweise wenig Ausländer gelebt haben. Dem hinzuzufügen wäre, dass es in der DDR ebenso lange offiziell keine pädophilen Sexualstraftäter gab (obwohl es sie natürlich gab), weil so ein Verbrechen nicht in das Bild vom jungen, gesunden Arbeiter- und Bauernstaat passte. Kein Scherz.

Ich fordere: Managergehälter für Erzieher, Lehrer und Städteplaner. Sozialisation und Integration sind die Zauberworte. Denn egal, ob IS-Ghettos in Belgien oder Nazi-Ghettos im Osten oder in Dortmund, wenn eine Gemeinschaft nicht ihre Vielfalt bewahrt und sich nicht selbst ständig (selbständig?) „wiederbelebt“ und aktualisiert, kommt am Ende nichts Gutes dabei heraus.

Ins Pi ratio N

Im neuen Bond verhindert 007 den Anschlag auf ein Stadion. Jetzt wird spekuliert, ob es für den Anschlag in Paris einen fiktiven „Vorläufer“ in dem Computerspiel „Battlefield 3“ gibt. Darüber hinaus haben die Täter womöglich über die Playstation 4 kommuniziert.

Ich frage mich, was dahintersteckt. Benutzen diese Täter für ihre Zwecke absichtlich die technischen und kulturellen „Errungenschaften“ ihrer Feinde? Gewissermaßen als eine Art doppelte Strafe? Oder um die Opfer zu verhöhnen? Ist das eine perverse Terror-Philosophie? Oder steckt da gar nichts hinter? Daddeln die jungen Dschihadisten einfach gerne ein bisschen zwischen den Anschlägen? Oder trainieren die mit diesen Spielen? Aber wie authentisch ist dann die Kritik an unserer Kultur?

Auch die Bild-Zeitung fragt:

battlefield

Die Frage ist zulässig. Und ist der Triumph über einen erfolgten Anschlag aus Tätersicht nicht noch größer ist, wenn ihn sich die Opfer vorher in der Phantasie ausgemalt haben – und nicht einmal der Computerheld sie schützen konnte? Geschweige denn Bond?

battlefield3

Randnotiz: Bei dem Bild-Artikel gibt es praktischerweise gleich noch eine eingebettete Anzeige für Battlefield 3 dazu. Nein, stopp, ist nur ein Testbericht. Dann geht´s ja …

Freitag, der 13.

Bin noch etwas geschüttelt. Die Beerdigung meiner Tante am Freitag, die mich – mehr als gedacht – mitgenommen hat, abends dann der Terror in Paris. Was für ein Wahnsinn!

Ich weiß, dass das Leben schön ist. An sich. Ertappe mich aber in diesen Tagen bei dem Gedanken, dass man besser keine Kinder in diese bekloppte Welt gesetzt hätte. Andererseits haben das unsere Eltern in den Achtzigern auch gesagt. Kalter Krieg, saurer Regen, Waldsterben, Tschernobyl.

Der November draußen macht es auch nicht besser. Keine Ahnung. Will meine Ruhe. Unsere Ruhe. Wir haben am Samstag den neuen Bond geguckt. War eher so, als sähe man eine Nachrichtensendung vom Vortag. Gespenstisch. Wünsche mir, dass Bond die Welt rettet. Aber „in Echt“. Oder dass wenigstens Angie durchhält. Hätte nie gedacht, dass ich das mal schreiben würde.

Nachtrag

Frage:  Hat der Pfeifentabak ihr Leben verkürzt oder verlängert?
Frage: Hat der Pfeifentabak ihr Leben verkürzt oder verlängert?

Lenz, Grass, Schmidt
WT…
Helmut geht
die letzte Konstanze
in Hamburg
der Herausgeber
gibt sich selbst heraus
kein Rauch mehr
wo er nicht hingehört
was bleiben
sind Kindheitserinnerungen
mit gleichaltrigem
Opa
und Schmidt
in 4:3 vom
viel zu großen Fernsehsessel
aus und ab
ins Bett
denn morgen
ist ein neuer Tag

und die Wahrheit in der taz wird wieder mit dem „Tod“ schimpfen müssen.

Fairdammt

Fair zuerst kommt, sprayt zuerst
Fair zuerst kommt, sprayt zuerst

Dieses Foto wurde mir heute morgen vom Stubenhacker zugespielt. Lustig. Leider. Denn genau diesen Kalauer habe ich ihm vor Monaten für unsere Bilderwitz-Kollektion rübergemailt. Doch offenbar bin ich nicht der einzige, der sich solche Sachen ausdenkt. Blöd. Und jetzt? Wer war zuerst? Vielleicht ja ich? Und wenn nicht: Gibt es auf gesprayte Sprüche ein Copyright? Muss ich diesen Sprayer jetzt suchen und mit ihm die weitere Verwendung verhandeln? Tue ich einfach so, als hätte ich dieses Foto nie gesehen? Oder klaut das jetzt sowieso sofort irgendein Youtuber? Hmmm, …

Main-Streaming

Gestern Abend lief die ZDF-Reportage, für die ich letzte Woche zugedreht habe. Kann man in der ZDF-Mediathek noch einsehen. Ist ganz schön geworden, wie ich finde. Resonanz war auch gut. Schon bemerkenswert, was man mit vereinten Kräfte dann doch wieder auf die Schnelle auf die Beine stellen kann.

Heute u.a. wieder ein bisschen mit dem Thema Werbung beschäftigt. In dem aktuellen IKEA-Weihnachts-Spot, den ich insofern ganz gelungen finde, als dass er das Fest mal aus der idyllischen Verpackung herausholt, ist mir aber noch was ganz Anderes aufgefallen: Bei ca. 24 Sekunden trägt ein Mann einen ziemlich grellen Strickpullover – so weit, so gut.

ikeapulli

Jedenfalls bin ich mir ziemlich sicher, dass ich mir vor Jahren mal genau dieses Modell im Schlussverkauf bei H&M gekauft habe – und deswegen schon des Öfteren von meinen Mitmenschen belächelt worden bin. Mitunter sogar regelrecht verlacht. Hab ihn damals leider auch eine Nummer zu klein gekauft, egal, Hauptsache, mir gefällt er. Und dass das Ding jetzt von einem kreativen Stylisten für einen Werbespot auserkoren wurde, zeigt doch nur, dass ich meiner Zeit voraus war, oder?

Ansonsten? Ärgere ich mich zunehmend über die McDonalds Plakate für den „Bio-Burger“. Nicht nur, weil es gar kein richtiger Bio Burger ist (deswegen heißt er offiziell ja auch nur „McB“), sondern weil ich finde, dass Sprüche wie: Kann Spuren von gutem Gewissen enthalten oder Schützt ihre Umwelt vor Magenknurren wichtige Themen wie Umweltschutz und Nachhaltigkeit auf eine blöde Art ins Lächerliche ziehen. Verstehe im Übrigen auch gar nicht, wie es der Slogan Kann Spuren von gutem Gewissen enthalten überhaupt durch die Chefetagen geschafft hat. Bei mir löst das einzig und allein den Gedanken aus, dass man den Rest der McDonalds-Speisekarte nur mit schlechtem Gewissen konsumieren kann. Also, ja, zugegeben, der H&M-Pulli ist womöglich jetzt auch nicht gerade der nachhaltigste Öko-Knaller … oh, hab den Spot gerade nochmal geguckt. Es wird immer besser: Der junge Mann im Spot küsst später nämlich noch seinen Freund. Wenn der Pulli in Fachkreisen jetzt also als hip für die Gay-Community angesehen wird, dann war ich wirklich meiner Zeit voraus …

ikeapulli2

Bin begeistert und wünsche allenthalben einen besinnlichen Abend.