Heimfahrt

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IC-Zugabteil. Besuch im Menschenzoo. Oder Aquarium. Von innen. Mein Gegenüber: ein junger – vermutlich – homosexueller Mann am Laptop. Er telefoniert etwas exaltiert mit einem Kollegen. Es geht um Kostenvoranschläge für irgendetwas – vermutlich – Kreatives. Denke, so, wie er die anderen Fahrgäste im Abteil taxiert, ist er vielleicht etwas versnobt, beim zweiten und dritten Hinsehen denke ich: was für ein gutaussehender junger Mann. Könnte mich beinahe in einen anderen jungen Mann hineinversetzen, der sich in diesen, mir gegenüber sitzenden verknallt.

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Komme gerade aus dem Ruhrgebiet. Finde es immer wieder verwunderlich, wieviele „Hausstrecken“ man im Laufe seines Lebens sammelt. Die S5 von Dortmund nach Witten bin ich hunderte Male gefahren. Diesmal allerdings bis Hagen. Ein alter Freund war zu Besuch, der jetzt in Amerika lebt, mit seiner tollen amerikanischen Frau und seinen drei tollen Kindern. Schade, dass wir uns so selten sehen. Dass könnte das einzig Gute an Trump werden. Dass er dafür sorgt, dass mein alter Freund da drüben die Zelte abbricht …

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Sogar an unserem alten Haus in Witten bin ich vorbeigekommen. Kommt mir heute vor wie ein anderes Leben. Es ist – bezogen auf das Alter der Kinder – die Lebensphase, die mein alter Freund jetzt durchlebt. Für mich im Grunde schwer vorstellbar.

Hagen bei meiner Ankunft, an einem frühen, gewitterschwangeren Sonntagabend, war überraschend abschreckend. Sehr viele Gestrandete. Berauschte. Alles unklar …

Gerade rollen wir Münster an. Freue mich auf zuhause, denke aber in dieser Sekunde, ich hätte auch meinem Vater Bescheid sagen und da noch eine Nacht pennen können. Oder meinem DJ-Kumpel Mike von der Tanzbande. Freue mich aber auch sehr auf zuhause. Mein Ziehsohn ist heute aus dem Urlaub wiedergekommen. Ist wohl ein gutes Zeichen, wenn man am Ende einer Reise froh ist, nach Hause zu kommen. Wenn man sich auf die Menschen freut, die da warten.

Es ist gerade ruhig geworden im Abteil, da setzt sich eine Kleinfamilie dazu. Mutter und zwei Kinder. Aus Afghanistan, auf dem Weg zum Vater in Hamburg. Ein anderer Fahrgast fragt sie aus. Ein Deutscher. Spielt mal den lustigen Onkel, mal den mahnenden. Ich finde ihn nur nervig. Frage mich, ob der nur nett ist oder pädophil!? Merke, dass ich langsam spinne. Dabei war ich gerade selbst mit lebhaften Kindern zusammen. Vielleicht deswegen. Sie sind so verwundbar.

Die Mutter hat sich ein schickes Top angezogen und verteilt Pommes und Hühnchen an die Kinder. Dann beginnt sie, sich die Finger zu lackieren. Das stinkt so dermaßen, dass ich versucht bin, etwas zu sagen. Sehe, dass es meinem Gegenüber ähnlich geht. Andererseits rührt mich der Gedanke, dass die Mutter zuhause nicht mehr dazu gekommen ist und sich einfach nur für ihren Mann in der Fremde schick machen will. Bin selber eineinhalb Jahre gependelt damals. Von Witten nach Hamburg. Krasse Zeit war das damals. Montagmorgens immer mit der ersten S-Bahn nach Dortmund und dann in den IC nach Hamburg, damit man pünktlich zur 10 Uhr Konferenz da war. Und wehe, der Scheißzug fuhr nicht.

Noch krasser als Hagen Hauptbahnhof an einem Sonntagnachmittag ist übrigens Dortmund Barop. Da scheint alles zu verfallen. Zumindest durchs Zugfenster. Bei Menschen würde man sagen: Boah, ist der alt geworden. Oder: Boah, sieht der krank aus.

Wenn man einen Oberbegriff für alles suchen müsste, wäre das vielleicht: Gefährdet. Oder: Hoffnungslos.

Ich klage die etablierten Parteien an, dass sie es versäumt haben, Hoffnung zu streuen. Stattdessen sind Ängste entstanden. Und Nöte.

In der taz vom Freitag ist ein wunderschönes Feature: Was mache ich, wenn sich plötzlich Leute aus meinem Umfeld als AFD-Wähler outen? Im Anschluss gibt es einen klugen 7-Punkte-Plan, wie man dann vorgeht: pragmatisch, menschlich, argumentativ, respektvoll, nicht von oben herab. 

Dem Artikel voran stehen drei fiktive Fallbeispiele von AFD-Wählern, die vorher sogar die Linkspartei gewählt haben. Absolut authentisch. Menschen, die selber nicht klarkommen und die AFD nur wählen, weil sie glauben, dass die „wirklich“ die Probleme angehen (anstatt in Wahrheit nur zur polemisieren).

Vielleicht muss man es anders formulieren: Ich klage die etablierten Parteien an, dass sie dem Land die Hoffnung entzogen haben, so wie man einer Pflanze Wasser entzieht. Und stattdessen Ängste gestreut. Man muss sein Volk nicht belügen. Man muss nur weitsichtig agieren und frühzeitig die richtigen Maßnahmen einleiten: Wohnen, Bildung, Arbeitsmarkt, Integration. Warum ist das so schwer?

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