Eng-Land

Verhüllt, aber dennoch erkennbar ...
Verhüllt, aber dennoch erkennbar …

Heute ist der letzte Tag unseres kleinen England-Abenteuers. London, Liverpool, Blackpool und Morecambe waren schon sehr gelungen, jetzt hausen wir in einem kleinen Airbnb-Appartement in Manchester und erleben weiterhin England pur. Die Idee, mal zu zweit zu fahren, ist aufgegangen. Alles sehr intensiv, gleichzeitig aber auch sehr leicht. Wir haben viel unternommen. Viel gequatscht. Viel Quatsch gemacht. Hätte sicherlich jeden Tag etwas schreiben können, aber ich habe mir vorgenommen, nicht zu sehr in „Produktion“ zu denken, sondern in Gedanken in erster Linie bei meinem Sohn zu sein. Jetzt schläft er noch, und ich nutze die Zeit, um ein paar Gedanken festzuhalten, vor allem für mich.

Zu Beginn muss ich einmal feststellen, wie leicht und unproblematisch es ist, mit ihm jetzt schon über eine Woche ein Zimmer zu teilen. Keine Scham, keine Scheu, kein Generve. Dann ist es wirklich auffällig, wie nett und hilfsbereit die Engländer sind, egal, ob dieser Typ im College in Morecambe, der uns genau gesagt hat, wo wir Fußballspielen gehen können, die Pensionsbesitzerin im selben Ort, die – ohne Wenn und Aber – unsere Sportsachen gewaschen hat, die alte Frau am Ticketschalter der Tram gestern oder die junge Frau an der Kinokasse. Alle! Ich versuche schon, meinem Sohn mitzugeben, dass man sich als Gast in einem Land respektvoll verhält und auf die Menschen zugeht. Er merkt, wie nett die Reaktionen sind, wenn einem das gelingt. Haben der Pensionsbesitzerin, die unsere Wäsche gewaschen hat, noch ein paar Pralinen gekauft, einfach nur als Geste. Mich beschleicht ohnehin immer das Gefühl, als Botschafter meines Landes unterwegs zu sein. Bin aber, wie gesagt, trotzdem ziemlich erstaunt, wie freundlich hier alle sind, obwohl offenkundig ist, wo wir herkommen.

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Wir sind oft unter Leuten gewesen, jeder Tag hielt ein kleines (oder großes) Highlight bereit. Eine Mischung aus Pop und Fußball. Waren in London im Beatles-Museum, in Liverpool bei einem Spiel an der Anfield-Road, und in Morecambe haben wir uns noch ein Spiel der vierten englischen Liga angesehen – Hammerstimmung. Allerdings ist es jetzt im März doch noch ziemlich kalt. Hatte extra keine dicke Jacke mitgenommen, weil ich beim Gepäck Platz sparen wollte und dachte, die Windjacke reicht. Aber der Sturm fegt einem hier echt die Mimik aus dem Gesicht. Habe für den Stadionbesuch sogar meine Rücken-Not-Wärmegürtel geopfert, damit wir zumindest beide einen warmen Rücken hatten.

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Hier in Manchester waren wir im National Football Museum, gemeinsam mit einem Haufen Schalke-Fans, denen die harte Niederlage gegen City noch sichtlich in den Knochen steckte. Muss sagen, mir ging es am nächsten Tag nicht anders. Ich meine, es war natürlich cool, hier, im Land des (sportlich gesprochen) Gegners, das Spiel Bayern-Liverpool zu gucken, aber leider hat uns der Spieler, den wir am Sonntag im Stadion noch so bewundert haben (Virgil van Dijk), die Lichter ausgeknipst. Und Bayern war halt zu harmlos. Und Neuer? Jetzt würde ich auch sagen, dass Ter Stegen ins Tor der Nationalelf gehört. Es sind immer diese kleinen Fehler, mit denen sich die Bayern letztes Jahr schon um den Lohn gebracht haben. Warum machen die das? Aber, wie gesagt, man muss es eben auch vorne zeigen, dass man will – so wie Barca. Oder (leider auch) Juve. Es ist schon erstaunlich, dass alle deutschen Spieler um die 30 plötzlich zu alt, Ronaldo und Messi aber nach wie vor spielentscheidende Akteure sind. Das muss mir auch mal einer erklären. Auf SPON hat Jörn Meyn übrigens genau das geschrieben, was ich meinem Sohn schon abends zuvor während des Spiels gesagt habe: zwei EX-Schalker prägen mit ihren Fehlern die erste Halbzeit. Zufall? Sicher nicht.

Uns fällt aber auch auf, wie hier alles etwas runtergekommen erscheint („downgecomed“, wie mein Sohn es scherzhaft nennt). Vor allem die Seeorte, wobei das auch daran liegen kann, dass noch Nebensaison ist. In Blackpool, zum Beispiel, macht alles (die große Kirmes, die Hafenpromenade, der hohe Turm) erst im April auf. Ja, es ist wirklich etwas tot. Für die Fotos allerdings ein ganz guter Effekt ;-)

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Hinzu kommen die vielen verlassenen Häuser und der Müll. Ehrlich, dieser Müll überall trübt das Bild. Auch die Menschen sind ein bisschen gezeichnet, vor allem die Alten. Und man kann das natürlich alles auch gar nicht wahrnehmen, ohne an den Brexit zu denken. Ich würde es so formulieren: Man macht sich beim Anblick von Land und Leuten ein wenig Sorgen. Aber genau aus diesem Grund verstehe ich auch, dass viele Menschen hier davon überzeugt sind, dass es ohne Europa besser wird. Weil viel schlechter kann es ja augenscheinlich nicht werden. Politik ist wie Fußball: Im Grunde ganz einfach, aber es spielen viele Tausendstel eine Rolle, um in dem einen Moment zum Erfolg zu kommen.

Wenn wir mit unserem kleinen Miet-Astra (gar nicht so einfach: Linksverkehr, das Steuer rechts, dafür mit Links schalten) unterwegs sind, hören wir immer „Die kurze Weltgeschichte für junge Leser“. Toll geschrieben von Ernst Gombrich und super gelesen von Christoph Waltz. Aber man kommt nicht so recht aus dem Zustand des Sich-Schämens heraus, wenn man hört, wie sich der weiße, ach so „kultivierte“ Mann über die Jahrhunderte verhalten und geschlagen hat. Besonders beeindruckt hat mich das Kapitel über das 18. Jahrhundert, wo ja in kurzer Zeit viele wegweisende Erfindungen gemacht wurden, z.B. die automatischen Webstühle, die zur Folge hatten, dass die eigentlichen Weber arbeitslos wurden, sich in den Fabriken an- und bei den Gehaltsverhandlungen gegenseitig unterboten, bis das, was sie verdienten, kaum mehr zum Leben reichte. Letzteres kennt man ja heute aus dem Medienbereich, wo viele Freelancer ebenfalls gezwungen sind, sich und ihre Arbeit unter Wert zu verkaufen. Überhaupt sind viele Probleme, die in dem Buch geschildert werden, hochaktuell.

Bin, nebenbei bemerkt, ziemlich erstaunt, wie gut mein Sohn mittlerweile Englisch spricht und versteht. Wenn wir hier zusammen Big Bang Theory gucken, lacht er über mehr Witze als ich, weil mir doch einiges verlorengeht. Vielleicht werden auch einfach nur meine Ohren schlechter. Aber auch gestern Abend: Ich hatte das große Verlangen, ihm „Bohemian Rhapsody“ zu zeigen, der Film lief natürlich auf Englisch, war aber überhaupt kein Problem. Habe übrigens nochmal festgestellt, was das für ein toller Film ist. Musste zwar nicht die ganze letzte halbe Stunde heulen, wie beim ersten Mal, war aber auch diesmal noch sehr berührend. Und mein Sohn hat das auch verstanden. Er fand übrigens den Trommler stark – und war dann relativ erstaunt, als ich ihm erzählte, dass ich auch mal in einer Rockband getrommelt habe …

Bin glücklich, dass wir diese Reise gemacht haben. Und dass meine Knie halten. Waren fast jeden Tag kicken, zweimal in Liverpool, zweimal in Manchester, jeweils auf so einem Kleinfeld-Park, wie es sie hier in jeder größeren Stadt gibt (inklusive Ligabetrieb), in Morecambe auf einem öffentlichen Platz. Das System hier ist ganz einfach. Man zahlt überall zwischen 1 und 3 Pfund die Stunde und kann dann spielen. Und wir haben tatsächlich Glück mit dem Wetter. Immer wenn wir kicken wollen, reißt der Himmel kurz auf. Und so ganz nebenbei hat mein ältester Sohn zuhause gestern seine Führerscheinprüfung bestanden. Dem Himmel sei Dank.

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