Abstand

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Sind seit gestern aus dem Urlaub zurück. Waren in Österreich, Skifahren. Alles toll, bis auf die Tatsache, dass sich mein jüngster Sohn am zweiten Tag den Arm gebrochen hat. War deswegen anfangs ziemlich genervt, dann ziemlich beeindruckt, weil mein Sohn trotz der Behinderung seine gute Laune nicht verlor, und am Ende sogar ganz versöhnt, weil die Zeit im Krankenhaus und zu zweit in der Hütte, während der Rest auf der Piste war, auch intensiv war, bzw. auch eine Art „Alltag“, der mir unter der Woche normalerweise ja eher versagt bleibt.

Außerdem haben wir ihn ein paar Mal zum Essen mit auf die Alm genommen. Das ist ja immer wieder ein Erlebnis, weil einen – trotz aller Routine der Wirte mit den Touristen – immer noch das Gefühl beschleicht, dass z. B. Goethe auf seinen Reisen durch die Alpen auch nicht anders pausiert hat.

Und diese Schneemassen sind natürlich beeindruckend. Allerdings nicht so beeindruckend, wie die kleinen Tannen und Büsche, die monatelang darunter begraben sind, und es Dank ihres Durchhaltevermögens trotzdem schaffen, im Frühling immer wiederaufzuerstehen. Das rührt mein Herz.

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Hab mich auch erholt. Bisschen geschrieben. Viel gelesen, u.a. „Ansichten eines Clowns“, ein Weihnachtsgeschenk meines Ziehsohnes. Kannte es, ehrlich gesagt, noch nicht. Ich habe als junger Mann mal „Das Brot der frühen Jahre“ gelesen, das war es aber dann auch schon mit Böll.

Bin jedenfalls begeistert. Habe sogar zwischenzeitlich „Menschenfleisch“ von Marcel Beyer zur Seite gelegt. Finde das zwar auch gut, aber m. E. leiden Geschichten ein bisschen darunter, wenn die Story hinter dem formalen Ansatz beinahe verschwindet, egal wie künstlerisch wertvoll dieser auch sein mag. Bin da womöglich aber auch etwas schlichter gestrickt.

Bölls Text ist so einer, bei dem man fast vergisst, wie alt der schon ist, weil er immer noch modern klingt. Zwei Beispiele gefällig?

„Ich glaube, es gibt niemanden auf der Welt, der einen Clown versteht, nicht einmal ein Clown versteht den anderen, da ist immer Neid oder Missgunst im Spiel.“

Und:

„Ein Künstler ist wie eine Frau, die gar nicht anders kann als lieben, und die auf jeden hergelaufenen Esel hereinfällt.“

(aus: Heinrich Böll, „Ansichten eines Clowns“, dtv-Sonderausgabe 2017)

Diese Sätze waren damals neu und sind heute immer noch so gut wie neu. Wenn ich solche Texte lese, beschleicht mich manchmal der Gedanke, dass ich nicht mutig genug bin. Als Autor. Und damit auch als Mensch. Oder Mann. Dass ich nicht alles riskieren. Dass ich eigentlich alles und jeden verlassen müsste, um noch einmal den großen Wurf zu wagen. Aber wäre das nicht purer Selbstmord?

Dann denke ich, dass ich politischer sein müsste. Dass ich eine Haltung entwickeln müsste, z.B. so wie Böll gegen die katholische Kirche. Dass man sich die AfD vornehmen müsste, die es im Moment in Hamburg leider schafft, regelmäßig Veranstaltungen im Rathaus zu machen, sodass die Innenstadt ununterbrochen mit AfD-Plakaten vollgekleistert ist. Das ist auf eine perfide Art genial. Aber wie heißt es in Celans „Todesfuge“: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Ich würde sagen: Das perfekte Böse ist eben auch Made in Germany.

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Also: Politischer werden. Eine Haltung entwickeln. Mir ist im Urlaub mal aufgefallen, wie viel Müll wir als Familie in 10 Tagen produzieren. Vor allem Plastikmüll. Das würde ich gerne ändern. Habe gestern morgen prompt Wurst und Käse an der Frische-Theke gekauft – und ungefähr das Doppelte bezahlt, aber gut, das wird sich einspielen. Interessanterweise gab es gerade eine Umfrage in Hamburg, und sehr viele Bürger sind von diesen Plastikverpackungen genervt. Und eine ehemalige Kollegin war diese Woche genau zu diesem Thema Studiogast bei „Hart aber fair“. Zufall? Wohl kaum. Es ist aber auch schwer zu begreifen, warum so viel Plastik produziert wird, anstatt die Ressourcen zu schonen, oder mit alternativen Materialien und politischen Richtlinien im großen Stil eine Wende anzustreben. Andererseits hat diese Notwendigkeit zur Innovation in der Automobilindustrie ja auch nichts bewirkt. Weil die Industrie schummelt. Überlege in dieser Sekunde, dass man eigentlich mal ein fundiertes Sachbuch über Lobbyismus schreiben sollte.

Und gerade jetzt macht mich meine Freundin auf den „mysteriösen“ Plastikmüll in der Schlei aufmerksam. Manchmal kann man gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte.

Was nicht heißt, dass ich nicht erkenne, was alles gut läuft. Dass wir z. B. auf der langen Autobahnfahrt hin und zurück in keinen Unfall verwickelt waren. Auf dem Rückweg standen wir auf den letzten Kilometern noch mal im Stau, weil es gekracht hatte. Direkt neben mir am Straßenrand eines dieser riesigen Warnplakate, darauf ein großes Frauengesicht, das weint. Darunter nur ein Wort:
Abstand.

Das ist, glaube ich, etwas sehr Menschliches, dass wir wider besseren Wissens, objektiv betrachtet, schlechte Entscheidungen treffen. Warnungen ignorieren. Es hat aber auch was Kühnes.

Wenn man davonkommt.

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Auch Plastik. Aber Müll?

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