Citoyen

Wenn Kinder an der Macht wären, wäre das die Exekutive
Wenn Kinder an der Macht wären, wäre das die Exekutive

Habe vor ein paar Tagen auf 3SAT spätabends (natürlich, die besten Filme laufen immer zu spät) eine Dokumentation über den Schriftsteller Max Frisch gesehen. Sie trug den Titel „Max Frisch, Citoyen“ und spielte damit auf Frischs ewiges Bedürfnis bzw. ewigen Konflikt an, sich nach dem Drama des Krieges stets politisch äußern zu müssen, weil er eben dies als seine Aufgabe ansah. Er hat sich nicht darum gerissen. Es wäre ihm sicher lieber gewesen, es hätte die Missstände (u.a. Polizeigewalt gegen Studenten, aber auch Fremdenhass „seiner“ Schweizer gegen Gastarbeiter – superaktuell) nicht gegeben, auf die er hinzuweisen sich förmlich gezwungen sah.

Der Begriff „Citoyen“ bezeichnet den (Staats-)Bürger, der – über seine individuellen Interessen hinaus – in der Tradition und im Geist der Aufklärung aktiv und eigenverantwortlich am Gemeinwesen teilnimmt und dies mitgestaltet. Die Schwierigkeit verbirgt sich allerdings schon hinter dieser Definition. Denn um „im Geist der Aufklärung“ mitzugestalten, braucht ein Bürger entsprechendes intellektuelles und soziales Rüstzeug. Über das wiederum – so muss man nach ein paar tausend Jahren Menschheitsgeschichte feststellen – verfügen in nötigem Ausmaß leider nur die allerwenigsten. Und die Wenigen sitzen zudem größtenteils nicht in entscheidenden Positionen, womit das Dilemma perfekt wäre. Deswegen ist die Welt ein Pulverfass. Ja, Vor-Geschichten führen zu kleinen Korrekturen in der historischen Entwicklung, es gibt auch formale Fortschritte, doch unterm Strich wurzeln sämtliche Konflikte und Ungerechtigkeiten doch nach wie vor im Unbewussten, im Instinktiven.

Kurve:

Aus diesem Grund ist die mediengestaltende Einflussnahme eines Jan Böhmermann in diesen Tagen gar nicht hoch genug zu bewerten. Sie ist zwar im Einzelnen diskutabel, erscheint im Allgemeinen jedoch genau so: „im Geist der Aufklärung“. Und sie erfolgt unter einer hohen persönlichen Opferbereitschaft. Jan Böhmermann wird wohl nie wieder nach Istanbul reisen können. Womöglich hat er bereits Personenschutz für sich und seine Familie angefordert. Ein verdammt hoher Preis, den niemand eingeht, dem es nur um den bunten Knalleffekt geht. Max Frisch hatte seinerzeit immer wieder gefordert, die Menschen mögen die Konzentrationslager besuchen, weil er – auch lange nach Kriegsende – der Meinung war, das wahre Grauen habe „uns noch gar nicht erreicht“. Für das junge Publikum, das heutzutage doch schwer zu beeindrucken ist, erfüllt Böhmermann-Fernsehen (in seinen Sternstunden, wohlgemerkt) genau diese Funktion: Es ist Opium und Aufklärung, Erinnerung und Prophezeiung. Und ich hoffe sehr, dass (es) so schnell keiner abschaltet.

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