Carmen

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Nee, Google, ernsthaft? Dann versuche ich es mal selbst …

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Adam schaltete das Radio ein. Die Stille setzte ihm in unguten Momenten im selben Maße zu, wie er sie im Allgemeinen schätzte. Aber das Radio einzuschalten, barg immer ein kleines Risiko. Das Radio zerstört das Wesen, hatten Medienkritiker früh gemahnt, es sei ein Tummel-Feld von Weltgeräuschen, später verpestete Göbbels, dieser mickrige Zwerg, den Äther mit seiner Propaganda, aber gut, bei Adams Klassiksender hielt sich das Risiko vielleicht in Grenzen.

Er hatte Glück, gerade spielten sie L’amour est un oiseau rebelle, die Arie aus der Oper Carmen. Die Liebe ist ein wilder Vogel, ein bezaubernder Titel. Und so wahr. Adam mochte diese Liebesgeschichte, der Sergeant und das verrückte Mädchen aus der Zigarettenfabrik. Er, der die Ordnung schätzte, und sie, die alles in Unordnung brachte. Da prallten zwei Welten aufeinander, und es lag auf der Hand, warum sich Adam von dieser Geschichte so angezogen fühlte.

Adam drehte das Radio etwas lauter. Die Callas machte das schon gut. Vielleicht war sie nicht die beste Sängerin, aber sie war sicher die einzige. Und dann dieser aufschlussreiche Text: Drohen oder beten, nichts wird helfen, der eine spricht, der andere schweigt. Wenn du mich nicht liebst, liebe ich dich. Und wenn ich dich liebe, gib auf Dich acht. Gib auf Dich acht. Sie wiederholte es am Ende noch einmal, nein, sie schrie es regelrecht in den Himmel: Gib auf Dich acht! Wie hätte man anders über die ganze Schwere und Magie der Liebe singen wollen, als mit diesen Worten, eingeschlagen in dieser Melodie?

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Eva und er hatten manchmal getanzt, immer zu diesem einen Lied von Audrey Hepburn aus dem Film Breakfast at Tiffany´s. In dem Film sitzt sie auf ihrem kleinen New Yorker Balkon und begleitet sich selbst auf der Gitarre, so herzzerreißend schön, dass man als Mann am liebsten in der Zeit reisen und sie aus ihrem Unglück retten wollte. Jedenfalls ließ sich darauf gut ein langsamer Walzer tanzen, so dass es sich nicht nur sicher anfühlte, sondern auch gekonnt aussah. Dieser Tanz war über die Jahre die einzige gemeinsame Bewegung gewesen, die sie auf Festen und Feiern verband. Ein formaler Akt, der es ihnen ermöglichte, ihre Beziehung, ihre Zweisamkeit regelmäßig vor Außenstehenden zu bezeugen.

Eines Abends, letztes Weihnachten, also ziemlich genau vor einem Jahr, sagte Eva ihm genau dies; dass dieser Tanz für sie eine beinahe konstituierende Funktion habe. Und dass sie viel zu selten tanzten. Adam hatte daraufhin geschwiegen und sogleich seine innere Verzweiflung gespürt, weil er ahnte, dass dies ein Moment war, in dem er hätte tätig werden müssen. Ihre Bemerkung war ja keine einfache Bemerkung, sondern ein Hilfeschrei, so viel hatte er im Laufe der Jahre kapiert. Also was jetzt? Das Internet war ausgefallen, und anders als die anderen Überlebensmittel – Eingemachtes, Klopapier, Medikamente, Nudeln, Äpfel usw. – hatte er dieses Lied nicht vorrätig. Doch nun sehnte sich Eva plötzlich nach diesem Ritual. Keine Ahnung, wie lange er tatenlos dagesessen hatte, bis sie schließlich den ersten Schritt machte, den ersten Tanz-Schritt, sie übernahm gewissermaßen die Führung, und Adam musste schmunzeln, er erinnerte sich genau, so sehr amüsierte ihn die Vieldeutigkeit der Sprache, was sich wiederum als hilfreich erwies, denn Eva, ihre Fingerspitzen bereits in seiner Hand, verstand diesen Hauch eines Lächelns, das sein Mund umspielte, als Zustimmung, wenn nicht sogar als Aufmunterung, ja, als klares Signal, hier und jetzt den Tanz zu versuchen, ohne die Hilfestellung der Musik, ohne die tragenden Säulen des Dreiviertel-Taktes, einfach nur Auge in Auge, ein riskantes Wagnis, ein … ein … aber es ging nicht. Schon nach wenigen Sekunden verendeten sie mitten in der Bewegung, halbwegs verkehrt, scheu und verletzt, wie ein Vogel mit einem gebrochenen Flügel.

L’amour est un oiseau rebelle, que nul ne peut apprivoiser. Vielleicht konnte man den rebellischen Vogel zähmen, dachte Adam, aber er ließ sich nicht beherrschen. Schon gar nicht ein ganzes Leben lang. Wenn man ihn einsperrte und hoffte, dass er sich an einen gewöhnte, wuchsen ihm riesige Schwingen und Klauen und ein Schnabel, so lang und scharf wie ein Säbel.

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