Waldmeister

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Meine Mutter räumt gerade den Dachboden auf und ist dabei auf unzählige Fotokisten gestoßen. Nun fotografiert sie ab und an sehr skurrile Schnappschüsse mit dem Handy ab und postet sie im Familien-Chat. Heute war eines von mir dabei, ich kann mich sehr genau an den Tag erinnern, an dem das Foto gemacht wurde. Es war im Frühjahr 1987, der Tag der Waldlauf-Kreismeisterschaften. Die Distanz: 2400 Meter. Mein Teamkollege Michael M. und ich liefen mit dem Startschuss von der Spitze weg, mit großem Vorsprung vor dem Rest des Feldes und wollten eigentlich ganz kameradschaftlich zu zweit durchs Ziel. Kurz vor der Ziellinie rief einer der Kampfrichter, es könne nur einen Sieger geben, woraufhin Michael einen Moment lang zögerte und mir dann den Vortritt ließ. Das werde ich (ihm) nie vergessen.

Es war mein erster und einziger Titel und vielleicht hatte ich ihn auch verdient. 1986 gehörte ich in meiner Altersklasse zur absoluten Spitze in Nordrhein-Westfalen, trainierte gut, manchmal zweimal am Tag, ohne Verletzungen. Vor allem aber war der körperliche Unterschied zu den anderen Athleten meines Alters noch nicht so groß wie im Folgejahr. Das Problem bei der Leichtathletik war für mich, dass die Klassen nach Jahrgang eingeteilt wurden, was bedeutete, dass ich, geboren im Dezember 1973, zum Teil gegen Konkurrenten lief, die fast ein Jahr älter waren, weil sie im Januar oder Februar Geburtstag hatten. Obendrein war ich – rein körperlich – ohnehin ein ziemlicher Spätzünder. Das hatte ich ganz gut im Griff, weil ich so fleißig trainierte – bis eben zum Frühjahr 1987. Da gewann ich erst den renommierten Crosslauf beim ESV Münster und fuhr gewissermaßen als Favorit zu den Kreismeisterschaften. Und auch das Meisterschaftsrennen bestritt ich – an der Seite meines Teamkollegen Michael – von der Spitze weg.

Heute würde ich sagen, das war damals eine große Geste von ihm als 13-Jähriger, mir den Vortritt zu lassen. Ich meine, es war ein Schlüsselrennen. Vermutlich hätte ich ihn an jenem Tag im Endspurt noch einmal niederringen können, aber faktisch war es das letzte Mal, dass ich vor ihm im Ziel landete. Danach ging es abwärts und ehemals langsamere Athleten machten einen Schuss und liefen mir plötzlich davon.

Wobei – nicht ganz richtig: Jahre später ließ ich Michael bei einem 10 km Stadtlauf in Greven noch einmal hinter mir, weil er mit riesigen Blasen an den Füßen aussteigen musste. Aber anders als die Meisterschaft fühlte sich der Sieg nicht wie einer an.

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