Trans fair

Snapseed

Am Moskauer Flughafen Sheremetyevo gibt es diesen Transferbereich, zwei lange Gänge parallel, die nur durch eine Glasscheibe getrennt sind. Auf der einen Seite kommen die Leute an, auf der anderen fliegen sie wieder ab. Sie gehen in entgegengesetzte Richtungen, und jedesmal, wenn ich ankomme, schiele ich neidisch auf die Abreisenden auf der anderen Seite und wünsche mir, ich hätte meinen Job bereits hinter mir.

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Andererseits liebe ich es, am Tag des Abflugs an der anderen Seite des Flures auf einem der Sitze Platz zu nehmen und die vorbeieilenden Menschen zu beobachten. Deswegen komme ich meistens immer etwas früher. Da sitze ich dann und reflektiere die letzten Tage. Und manchmal kann ich mich regelrecht zurückziehen hinter meine Fassade, wie hinter Burgmauern. Oder, besser gesagt, wie hinter die Holzvertäfelung einer schwedischen Blockhütte. Dann kann ich ziemlich empathisch werden, betrachte wildfremde Menschen und könnte beinahe vor Rührung seufzen, sie müssen nicht einmal etwas Besonderes veranstalten – ein altes Paar auf Reisen oder ein junges, ein Junge, der seiner Mutter die Tasche trägt, eine Tochter, die die Hand des Vaters nimmt …

Und dann versetze ich mich in diese Menschen hinein, schlüpfe in ihre Rolle, weiß von einer Sekunde auf die andere, wie es wäre, der Mann dieser Frau zu sein. Oder die Ehefrau des Mannes. Wie es in ihrer Wohnung aussieht, was der Arzt gesagt hat, warum ihre Kinder nicht mehr so oft zu Besuch kommen, kenne ihre Träume, ihre Ängste, im Ernst, ich hab dann manchmal das Gefühl, die Summe aller Leben zu sein.

Und dann kommt man wieder zuhause an und liest, dass die USA und Israel aus der Unesco ausgetreten sind, und deine Freundin erzählt dir von einem „Monitor“-Bericht, der besagt, dass heute noch ein Großteil der Elite in Ostdeutschland aus Westdeutschen besteht, und die Ostdeutschen da völlig unterrepräsentiert sind, und dann stellst du fest, dass du dich da auch schon viele Male hinversetzt hast in die Lage derer, um das Dilemma zu verstehen, und dass das schon verrückt ist, dass wir es offenbar in einigen Fällen besser hinkriegen, Menschen vom anderen Ende der Welt zu integrieren als unsere eigenen Landsleute, und dass ein erster Schritt vielleicht sein könnte, sich nicht mehr über deren Dialekt lustig zu machen …

Und bevor man dann richtig schlechte Laune kriegt, betrachtet man seine Freundin, die man ein paar Tage nicht gesehen hat, – und kriegt prompt wieder gute.

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